„Liturgie & LaOla”

Feierformen im säkularen Kontext

Ein Vortrag am 9. November 2017 in Aachen vor einer Gruppe von Priestern im Bistum Aachen.

Sonntag, 21. Mai 2017, letzter Spieltag der 2.Liga: Der VfB Stuttgart gewinnt gegen Kickers Würzburg und kommt nach einem Jahr Abstinenz wieder in die Bundesliga zurück. Der Spielmacher, Alexandru Maxim, wird nach dem Abpfiff von den Fans, die den Platz gestürmt haben, frenetisch gefeiert.
Bild 1 | Sonntag, 21. Mai 2017, letzter Spieltag der 2.Liga: Der VfB Stuttgart gewinnt gegen Kickers Würzburg und kommt nach einem Jahr Abstinenz wieder in die Bundesliga zurück. Der Spielmacher, Alexandru Maxim, wird nach dem Abpfiff von den Fans, die den Platz gestürmt haben, frenetisch gefeiert. | © vertikalpass.de

Ich freue mich, vom Bistum Aachen – von Angela Reinders und Heinz-Leo Görtzen – eingeladen worden zu sein, gemeinsam mit Euch ein wenig über Liturgie im Alltag nachzudenken. Dem Vortrag haben wir den Titel “Liturgie und LaOla” gegeben, denn ich möchte den Blick auf Rockmusik- und Fußballfans lenken. Das hat auch ganz konkret etwas mit meinem persönlichen Verhältnis zu “Liturgie” und “LaOla”. zu tun.

Wer bin ich?
Bild 2 | © Ralf Simon

Meinen Vortrag habe ich daher in zwei große Blöcke gegliedert:

  • “Liturgie im Fußball” an Beispielen von VfB Stuttgart, Alemannia Aachen u.a. sowie
  • “Liturgie in der Rockmusik” am Beispiel von BAP, womit wir auch anfangen.
Bild 3 | © Ralf Simon

Bevor ich jedoch so richtig anfange – eine kurze Umfrage:

Alemannia-Fans hier?

1. FC Köln?

BAP?

Oder sogar Stuttgart oder Karlsruhe?

Dann nimm dir doch einmal einen dieser Schals, leg ihn dir um. Fühl dich die nächsten drei Stunden als “Fan”!

Bild 4 | BAP-Konzert, Museumsmeile Bonn |© krentschman-pics.de

Kennst Du das auch: Schlange stehen im Supermarkt? Das gibt es nicht nur, wenn wir das für uns absolut Lebensnotwendige kaufen: Lebensmittel, Verpflegung, Getränke.

Das gibt es auch, wenn Fans rechtzeitig zum Konzert anreisen und bereits Stunden vorher vor der Konzerthalle auf den Zutritt warten. Im Winter friert man sich dann auch gerne mal die Beine dabei ab und hat halt einfach Pech, wenn es dann dort keinen Würstchen- oder Glühweinstand gibt.

Was wären wir doch froh, wenn die Kirchenbesucher*innen bei uns so Schlange stehen würden …!! Na ja, zur Christmette und zur Osternachtsfeier in meiner Heimatgemeinde bei Bonn kommen die Gemeindemitglieder zumindest so rechtzeitig, dass bereits eine Viertelstunde vor Gottesdienstbeginn die Kirchenbänke komplett besetzt sind.

Bild 5 | BAP-Konzert, Museumsmeile Bonn | © General-Anzeiger Bonn

Ihr kennt das ja aus Euren Gottesdiensten und auch ich stelle es immer wieder fest: Die ersten Reihen in der Kirche bleiben meistens frei. Nicht so bei Rockkonzerten!

Vielen Fans ist sehr wichtig, während der 2 bis 3 Stunden möglichst nah an ihren Idolen zu sein. Da wird dann auch schon mal – bei BAP aber eher selten – gedrängelt und geschubst.

Bild 6 | Wolfgang Niedecken und sein BAP-Altar | © Paul Kalkbrenner / Bergischer Bote

Und während die Fans vor der Bühne auf den Konzertbeginn warten, versammeln sich die Band-Mitglieder hinter der Bühne am “Altar”. Ein “Altar” bei einem BAP-Konzert? Ja, so wird diese “Box” mit zahlreichen Devotionalien, die dem Band-Leader Wolfgang Niedecken im Laufe seines musikalischen Schaffens über den Weg gelaufen sind bzw. zugesteckt wurden, von ihm selbst genannt.

Wolfgang Niedecken schreibt über diesen “Altar” im Vorwort des Live-Albums “Övverall”:

Einmal, in Saarbrücken, war es fast soweit, dass man uns in Zwangsjacken abgeführt hätte. Jedenfalls, die Mienen der hinter der Bühne dienstführenden Feuerwehrmänner und Sanitäter konnten entsetzter nicht sein. Dabei hatte das mit dieser transportablen Hausbar doch alles so harmlos angefangen, angesichts der wir an jenem Abend unmittelbar vor der Show mittels einer homöopathischen Dosis Grappa den ‘heiligen drei Königen’ huldigten, was wiederum weniger mit den drei Kronen im Kölner Stadtwappen, als mit dem legendären Auftritt der Herren Richards, Wood und Dylan beim seinerzeit weltweit übertragenen Live-Aid-Spektakel zu tun hatte.

Wolfgang Niedecken, Booklet des BAP-Albums „Överall“ (Seite 2). EMI Electrola 2002

Bei den Herren Richards, Wood und Dylan handelt es sich übrigens um Keith Richards und Ron Wood von den Rolling Stones sowie den inzwischen zum Literaturnobelpreis-Träger geehrten Singer-und-Song-Writer Bob Dylan.

Wolfgang Niedecken drückt dieses Ritual gelegentlich auch als Huldigung aus. Und dieses Huldigungsmotiv kennen wir z.B. auch aus der Weihnachtsgeschichte:

Wir haben seinen Stern aufgehen sehen und sind gekommen, um ihm zu huldigen.

Mt 2,2
Bild 7 | Der BAP-Altar | © privat / Bergische Landeszeitung

Im Katalog der Ausstellung “Drei Freunde treffen sich – revisited” steht über das Kunstobjekt des Musikers und gelernten Bildenden Künstlers Wolfgang Niedecken:

Dieses, einem dreiflügeligen Altar entsprechende, private und sehr persönliche Werk wurde nicht für die ästhetische Betrachtung im öffentlichen Ausstellungsraum geschaffen, sondern ist einem Künstlertagebuch oder BAP-Archiv vergleichbar und eine der sichtbarsten Verbindungen von Bildender Kunst und Musik in seinem Werk. (…) Wie in jeder Collage oder Assemblage treten die heterogenen Bestandteile in immer neue Dialoge und gelangen dadurch zu andersartigen Aussagen. Gerade in der permanenten Veränderung und dem Neuarrangieren durch Niedecken bei jedem Aufbau wird dieser Dialog stets wieder neu initiiert.

Petra Oelschlägel: „Freunde treffen sich – Die ganze Welt des Zauberkastens”

“Dieses, einem dreiflügeligen Altar entsprechende (…) Werk” habe ich gerade zu Beginn zitiert. In der Kunst wird ein solches Objekt auch “Triptychon” genannt: Damit werden also – Sie werden es wissen – dreigeteilte Gemälde oder dreiteilige Relieftafeln bezeichnet, die oft mit Scharnieren zum Aufklappen verbunden sind und sich insbesondere als Andachts- oder Altarbild finden. Triptychen bestehen aus einer Mitteltafel und zwei meist schmaleren Flügeln. So wie auch hier bei diesem “BAP-Altar”. Und natürlich hat Wolfgang Niedecken diesem “Triptychon auch seinen eigenen Song gewidmet.

Du findest den Song “Triptychon” (7:13 Min.) auf der Single-Auskopplung zum Live-Album “Övverall” (2002).

Den Text zum Mitlesen (in Kölsch und Hochdeutsch) erhältst Du hier.

Und zu Beginn eines solchen BAP-Konzertes sieht die Huldigung dann so aus:

Video 1 | 15. Oktober 2014, Dessau, Bauhaus, NiedeckensBAP unplugged | © ZDF / NiedeckensBAP / Youtube

Schaue und höre dir die Phase von Minute 0:32 bis Minute 1:06 an.

Bild 8 | BAP-Fans „huldigen“ vor dem BAP-Konzert in Winterthur (CH) | © www.tilllate.com

Das Ritual der Huldigung ging später dann übrigens auch auf den kleinen Fan-Kreis der “Unheilbaren” über.

Natürlich mit einem BAP-Altar-Imitat:

Bild 9 | Ein selbsgestalteter BAP-„Altar“ eines Fans | © Ralf Simon

Seht Ihr da eine Ähnlichkeit zu Liturgieformen in unserer Kirche?

Bild 10 | Eine kleine Sammlung von BAP-Devotionalien | © Ralf Simon

Tja … und dann gab es mal etwas, da fragte meine Schwester mich anno 2008:

Ist das jetzt etwa dein BAP-Altar?

Damals habe ich das streng verneint, denn ich betrieb davor ja keine Verehrung in Form von Gebeten oder Ähnlichem. Wenn die Wikipedia aber definiert:

Doch auch die Errichtung des Altars an sich und seine unter Umständen reiche Verzierung sind bereits ein Akt der Verehrung,

de.wikipedia.org/wiki/Altar

… dann bin ich doch irgendwie dabei. Verehrung möchte ich es zwar nicht nennen, aber großen Respekt vor der lyrischen, musikalischen sowie vor der gesellschaftspolitischen Leistung des Wolfgang Niedecken und seiner Band-Kolleg*innen und auch eine gewisse Vorbildfunktion für mich (und andere BAP-Fans) will ich nicht verschweigen.

Inzwischen gibt es das Regalbrett in dieser Form nicht mehr. Dafür ist die Sammlung der BAP-Devotionalien im Laufe der vergangenen Jahre doch zu stark angewachsen. Und die CDs und DVDs sowie der Großteil der LPs und Vinyl-Singles sind da noch nicht dabei.

Bild 11 | Fotomontage: Regale mit BAP-DVDs, -CDs, -Büchern und Devotionalien | © Ralf Simon

BAP – Die Songs 1976-2011

Ein wichtiges Utensil vieler BAP-Fans ist die sog. “BAP-Bibel” (r.): Sie verzeichnet alle BAP-Songs von 1976 bis 2011 – also vom ersten Album “BAP rockt andere kölsche Leeder” bis hin zu “halv su wild”. Wolfgang Niedecken wählte 2011, weil er in diesem Jahr 60 Jahre alt wurde. Er feierte diesen runden Geburtstag übrigens auf der MS RheinEnergie:

Wenn der Papst hier eine Messe drauf feiern kann, dann reicht das für mich wohl auch,

witzelte er im kölschen Express.

Gut, man könnte meinen: Wer alle CD oder LPs hat, hat auch alle Texthefte. Und in Zeiten des Internets sind sowieso alle Texte im kölschen Original und transkribiert ins Hochdeutsche online verfügbar. Und dennoch ist es so, dass diese Band, ihre Musik, die Texte viele Fans – auch mich! – so sehr begeistert, dass mehr oder weniger alles, was als Merchandising-Artikel auf den Markt kommt, auch gekauft und zuhause “ausgestellt” wird. So eben auch diese BAP-Bibel. Und wenn es sein muss, dann auch die Erstausgabe mit Ergänzungsband und später dann noch die Komplettausgabe. Bei der Vielfalt von CD, LP, Special Edition und “Vinyl-Doppel-LP in blau” füllt sich der Plattenschrank wegen nur eines Albums auch noch recht schnell.

Bild 12 | NiedeckensBAP, Bühnenbild | © Ralf Simon

Kommen wir zurück zum Konzert: Seit ca. 2010 beginnen BAP-Konzerte bundesweit bzw. auch in Österreich, in der Schweiz sowie in Luxemburg und in Belgien mit dem Glockengeläut des “Dicken Pitter” vom Kölner Dom. Hören wir mal rein:

Video 2 | 18. März 2017, Essen, Lichtburg, NiedeckensBAP: Intro (Domglocken) / „Songs sinn Dräume” | © Ralf Simon / NiedeckensBAP / Youtube

1 Minute 12 Sekunden Domglocken-Geläut – zwischendurch begleitet von Applaus! Ich bekomme da jedes Mal eine Gänsehaut. Das ist für mich in dem Moment ein Gefühl, als ob ich im Kölner Dom drin wäre.

Bild 13 | NiedeckensBAP | © Ralf Simon

Und auch während des BAP-Konzertes wird nicht an Elementen gespart, zu denen ich durchaus gewisse Parallelen zur gottesdienstlichen Liturgie ziehen kann. Da wäre natürlich zuallererst der gemeinsame Gesang des Liedguts: Die Band intoniert und schon mit der ersten Silbe ist das Publikum dabei. An Applaus wird zum Ende eines jeden Liedes nicht gespart und wenn die Band richtig Spaß hat, dann gibt es vom Bandleader mit den Worten “Einen ham’mer noch!” das Signal an seine Mitmusikanten, den Refrain noch einmal zu spielen.

Was eigentlich immer passiert: wohlwollendes Nicken des Frontmanns Niedecken zu ihm bekannte Gesichter im Publikum. Denn so, wie der Pfarrer seine Gemeindeschäfchen kennt, so kennt Niedecken auch seine Fan-Gemeinde.

Gemeinde!

Ja, so verstehen wir uns durchaus in der bundesweit etwa 50 Fans umfassenden Gruppe der sog. “Unheilbaren”. Das sind jene, von denen immer einer auf irgendeinem BAP-Konzert anzutreffen ist, und von denen bereits vorher bei der Huldigung die Rede war.

Bild 14 | NiedeckensBAP | © Ralf Simon

Wenn sich das Konzert nun langsam aber sicher dem Ende neigt, dann kommt es zu den beiden klassischen Höhepunkten.

“Verdamp lang her”, der Song, mit dem BAP 1982 überregional bekannt wurde: Da wird es laut, da singen alle mit! Da wird abgerockt!

“Jraaduss” hingegen ist ein ruhiges, nachdenkliches Lied, dessen Text viel Tiefgang besitzt. Wenn die ersten Töne dieses Songs zu hören sind, wird es still im Saal. Oft kam es schon vor, dass Wolfgang Niedecken von der dann entstandenen Atmosphäre so ergriffen war, dass er nicht singen konnte – das übernimmt dann aber absolut textsicher das Publikum:

Video 3 | 1. Juni 2016, Köln, LanxessArena: NiedeckensBAP: „Jraaduss” | © snory66 / NiedeckensBAP / Youtube

Höre hier von 3:43 Minute bis 4:33 Minute.

Bild 15 | BAP-Tickets | © Ralf Simon

Fast 100 BAP-Konzerte habe ich selbst nun seit 1982 besucht, u.a. 3x in der Schweiz, 1x in Luxemburg, 1x in Belgien, in Deutschland von Flensburg bis Singen von Aachen bis Dessau; schön, wenn ein kath. Arbeitgeber das dann auch mitmacht und ich zeitweise Urlaube bzw. freie Tage je nach Tour einrichten kann!

Bild 16 | Die Toten Hosen | © Georg Ismar / Traunsteiner Tagblatt

Und dann springt er vom Balkon in die Menge. Irgendwie fangen sie Campino auf, er schwebt über zahllose Hände,

schreibt das Traunsteiner Tagblatt zu diesem Foto.

Sich getragen fühlen von der Gemeinschaft. Das geht nicht nur durch gemeinsames Gebet, durch positiven Zuspruch an eine Person. Das geht auch, indem man sich im wahrsten Sinne des Wortes fallen lässt. Auf die Menge, die dich dann trägt.

Dass es Crowdsurfing, “surfen auf der Menge”, gibt, habe ich zwar vorher schon gewusst, jedoch habe ich es nie live mit eigenen Augen gesehen. Und ich finde es faszinierend, wenn Punks, die sonst eher für Pogo bekannt sind, dann eine tragende Gemeinschaft sind. So konnte ich es selbst bei einem Konzert der Düsseldorfer Punk-Band “Die Toten Hosen” am 7. Oktober 2017 in Buenos Aires miterleben, aus “sicherer” Entfernung sehen: Der Sänger, Campino, kletterte am Hallenrand von einer Seitentribüne auf eine Rohrleitung und ließ sich von dort auf die Menge fallen. Mit dem Mikro in der Hand wurde er singend von den Händen der Menschenmenge nach vorne getragen. Irre, wie ein Mensch so viel Vertrauen in andere Menschen haben kann!

Hier eine Aufnahme vom Crowdsurfing eines anderen Künstlers beim Festival “Rock am Ring”:

Video 4 | Rock am Ring: Crowdsurfing XXL | © Rock am Ring / ProSieben / Youtube

Kommen wir von der Musik zum Fußball.

Bild 17 | Aachener Tivoli, Block S5 | © Ralf Simon

Kennst Du DIE Hymne, das Glaubensbekenntnis!, in vielen Fußballstadien, das alle Fans miteinander verbindet? Der FC Liverpool, Borussia Dortmund, Alemannia Aachen … hier u.a. läuft vor Beginn eines Fußballspiels der Song “You’ll never walk alone”, mitgesungen, ja, mitgegröhlt aus den Kehlen der 5.000 bis 80.000 Zuschauer. Hier in einer Version des bereits vorhin erwähnten Tote-Hosen-Konzertes in Buenos Aires:

Video 5 | 7. Oktober 2017, Buenos Aires, Die Toten Hosen: „You’ll never walk alone” | © Ralf Simon / Youtube

Und auf dem Aachener Tivoli sieht das dann so aus:

Video 6 | 22. Oktober 2017, Tivoli Aachen: „You’ll never walk alone”. Vor dem Regionalliga-West-Heimspiel gegen Rot-Weiß Essen. | © Ralf Simon / Youtube

Ich möchte nun gerne mit Euch den Weg eines Fußball-Fans nachzeichnen: Von Zuhause ins Stadion. Denn:

liturgieähnliche Elemente des Stadionfußballs sind zahlreich: Jahresrhythmen, Sakralbezirke, Gemeindebildung, Fesstatgskleidung, Pilgerstraßen, Einzugsriten, Fangesänge, Wechselrede, Vorbeter, Goldpokale, Heiligenlegenden, Märtyrergestalten, Gedächtnisorte

Christian Bauer, Fußball als theologischer Ort, S. 44
Bild 18 | Aachen, Tivoli | © Ralf Simon

Zu Hause wird sich “fein” gemacht: Der eine nur mit Schal und Käppi, andere zelebrieren selbst ihre Kleidung, auch Fan-”Kutten” genannt. Allwöchentlich hüllen sie sich in ihre ganz besonderen Gewänder.

Von Zuhause aus geht es dann in’s Stadion. Viele gehen zu Fuß, kommen mit dem Bus, Fahrrad oder Auto.

Bild 19 | 26. August 2017, Stuttgart: VfB-Fanmarsch von Bad Cannstatt zum Stadion | © Ute Lochner / vfb-bilder.de

Prozessionsartig pilgern (!) sie mit Liedern und Gesängen in das Stadion ihres Lieblingsvereins,

beschreibt Pater Maurus dieses Phänomen. Und weiter:

Schon rein äußerlich haben die Stadien einen fast sakralen Charakter – von der architektonischen Gestaltung bis zu den hymnenartigen Gesängen, die dort erschallen. Das Fußballstadion – die Kathedrale der Neuzeit?

Vielleicht erscheint dieser Vergleich manchem etwas überspitzt, doch ich finde die aufgezeigten Parallelen der beiden „Liturgien“ bedenkenswert. Was macht die Faszination aus, die nicht nur in Bundesligazeiten, sondern mehr noch bei Welt- und Europameisterschaften und anderen (sportlichen) Großveranstaltungen Tausende ansonsten ganz normale Menschen ergreift? Zeigt sich da nicht eine zutiefst menschliche Sehnsucht, die früher die Religion erfüllen konnte, die aber mittlerweile aus den Kirchen u.a. in die Fußballstadien abgewandert ist?

Im Phänomen des Fußballfans mit seiner ‘liturgischen Bekleidung’ aus Trikot, Schal, Schirmmütze und Flagge (alles in den Farben des jeweiligen Vereins) und dem quasi religiösen Liedgut der National- und Vereinshymnen zeigt sich eine Sehnsucht nach Zugehörigkeit und Gemeinschaft, die in jedem Menschen angelegt ist, ob er nun einer offiziellen Religion angehört oder nicht. Wir alle möchten irgendwo dazugehören, uns mit anderen solidarisieren, unsere Vereinzelung durchbrechen auf andere Menschen und auf ein größeres Ziel hin. Der Mensch ist nun einmal ein Gemeinschaftswesen. Von Geburt an leben wir in Gemeinschaften, zunächst uns vorgegeben, später dann selbst gewählt. Der Schriftsteller Arnold Stadler spricht von einem „Dazugehörigkeitsverlangen“ des Menschen.

Es ist uns sozusagen fest eingeschrieben, irgendwo dazugehören zu wollen und das auch durch äußere Zeichen kenntlich zu machen. Das klassische religiöse Beispiel ist das Ordensgewand, doch auch im wirtschaftlichen und politischen Leben spricht man immer mehr von einer corporate identity, die sich in einer bestimmten Kleidung Ausdruck verschafft (z.B. in einer speziellen Firmenkrawatte). Und beim Fußball ist es eben die Fankleidung – oder das Gefühl, zu einer größeren Gemeinschaft zu gehören, die jeden Samstag die Bundesligakonferenz im Radio hört.

Auch Christen sind vom „Dazugehörigkeitsverlangen“ nicht ausgenommen. Aber – und ist das nicht das eigentliche Wunder? – unser Verlangen wird ernstgenommen. Wir dürfen zu einer großen, weltumspannenden Gemeinschaft, der Kirche, gehören. Und noch mehr: In Jesus Christus findet unsere tiefste Sehnsucht, dazuzugehören, ihre Erfüllung. Ganz so, wie es auf einem Fußballtrikot des ehemaligen brasilianischen Weltfußballers Kaká einmal stand: I belong to Jesus – ‘Ich gehöre zu Jesus’.

Bild 27 | Pater Maurus Runge OSB | © privat / koenigsmuenster.de

Ich finde es wunderbar, dass ich zu einem solchen Team gehören darf. Einem Team ganz unterschiedlicher Menschen, in dem jede und jeder seine und ihre ganz eigene Begabung entfalten darf. Bei den Aposteln hat das ja schon angefangen: das war eine Mannschaft von höchst individuellen, fast schon eigenwilligen Charakteren: Simon Petrus, der Spielführer, der capitano, der erst langsam in seine Rolle hineinwachsen muss; Jakobus und Johannes, die leicht aufbrausenden ‘Donnersöhne’, immer für einen flotten Spruch gut, ohne an die Folgen zu denken – Oliver Kahn lässt grüßen; Thomas, der erst durch die Nacht des Zweifels hindurch muss, um Jesus berühren zu können; Matthäus, der Zöllner und Lebemann (von Caravaggio auf seinem berühmten Gemälde zumindest so dargestellt); Judas Iskariot, der tragisch Gescheiterte, der so große Ziele hatte und daran zerbrach, dass Jesus ganz anders war, als er es sich vorgestellt hatte.

Bei diesen Aposteln gibt es offensichtlich nichts, was es nicht gibt, und auf den ersten Blick scheinen sie auch nicht viel gemeinsam zu haben.

Bis auf das eine: Irgendwann in ihrem Leben hat der Ruf Jesu sie getroffen, sein Blick sie angerührt, und da haben sie alles verlassen und sind ihm nachgefolgt, weil sie spürten: da ist einer, für den zu leben sich lohnt, da ist ein Ziel, auf das hin ich leben kann. Und dieses Ziel schweißt diese so unterschiedlichen Menschen zu einer Mannschaft zusammen, die Jesu Botschaft bis in die hintersten Winkel der Erde trägt. Zusammengehalten werden sie von einem ganz besonderen Teamgeist.

Die Apostel – und das gilt auch für uns, die wir nach ihrem Vorbild leben und wirken sollen – haben sich ihren Dienst nicht ausgesucht, sondern sind dazu berufen worden.

Ganz ähnlich, wie ein Fußballspieler in die Nationalmannschaft ‘berufen’ wird – schon die Wortwahl ist die gleiche. Irgendeiner hat sie entdeckt; sich selbst rufen kann keiner.

Maurus Runge OSB: „Liturgie“ eines Fußballspiels und Sehnsucht nach Gemeinschaft Begegnungen mit der Popkultur
Bild 20 | Sandra Walzer: „111 Gründe, den Karlsruher SC zu lieben” | © Schwarzkopf & Schwarzkopf Verlag

Und wo wir gerade bei Ordensbrüdern als Fußballfans sind: Der Kapuzinerpater Burkhard Volkmann ist begeisterter KSC-Fan. Im Buch “111 Gründe, den KSC zu lieben” steht über ihn – als 95. Grund:

Denn dein ist die Kraft (…) In Kutte, mit Käppi.

Sandra Walzer, 111 Gründe, den Karlsruher SC zu lieben, S. 211-213

Soweit der KSC-Fan Sandra Walzer in ihrem Buch; sowas gibt es übrigens von nahezu jedem anderen Erst- und Zweitliga-Club auch.

Im Stadion angekommen, sieht man dann das Spielfeld: Das Grün strahlt frisch in seiner Farbe, denn es wird ja auch optimal durch den Platzwart vorbereitet und instand gehalten. Er verrichtet seine Arbeit genauso gewissenhaft, wie es auch der Küster in der Kirche tut.

Bild 21 | Stuttgart, Mercedes-Bens-Arena, Cannstatter Kurve | © Ute Lochner / vfb-bilder.de

Die Fans nehmen ihre Stammplätze auf den Steh- und Sitzplatztribünen aus, hängen ihre Fahnen an Gittern und Mauern auf. Und dann werden die vereinsspezifischen Lieder angestimmt.

Bei der Alemannia hört sich das dann auf dem Bitburger Wall so an:

Video 7 | 22. Oktober 2017, Aachen, Tivoli: „Alemannia Aachen wird nie untergeh’n“. Vor dem Heimspiel gegen Rot-Weiß Essen. | © Ralf Simon / Youtube

Ca. 10 Minuten vor Spielbeginn verliest der Stadionsprecher die Aufstellungen der Mannschaften: zuerst die der Gastmannschaft, dann die des Gastgebers im Wechselruf von “Vorname – Name” mit den Fans:

“Mit der Nummer 12: Patrick” – “Nettekoven”

“Mit der Nummer 3: Alexander” – “Heinze”

“Mit der Nummer 23: Daniel” – “Hammel”

“Mit der Nummer 9: Junior” – “Torunarigha”

… und so weiter und so fort …

Kaum ist dieses manchmal ohrenbetäubende Ereignis vorbei, laufen die Spieler und Schieds-/Linienrichter aus dem Dunkel des Spielertunnels auf den Platz und werden wiederum frenetisch gefeiert und angefeuert.

Ähnlich wie das Kreuz beim Einzug ins Gotteshaus trägt der Schiedsrichter den Ball ins Stadion. In Prozessionsordnung folgen die Spieler, jeder hat dabei ein Einlaufkind an der Hand.

Eckard Bieger beschreibt das in seinem Artikel “Ist der Fußball eine Liturgie?” folgendermaßen:

Wie die Messdiener in einem katholischen Gottesdienst tragen die Akteure auf dem Spielfeld eine besondere Kleidung. Sie kommen, wie beim Einzug in den Gottesdienst, in Zweierreihen auf den Platz und stellen sich, bevor es losgeht, in Reih’ und Glied auf. Dann erklingt, vergleichbar dem Eingangslied zum Gottesdienst, eine Hymne. Wie in einer Kirche gibt es einen heiligen Raum, den nur wenige, die besonders gekleidet sind, während der Liturgie betreten dürfen. Der Rasen ist heilig und hat, auch wie eine Kirche, besondere Zonen, so den Strafraum und die Mittellinie. (…) Es gibt liturgische Gefäße, Pokale oder Schalen, die hochgehalten und, wie eine Monstranz, allen gezeigt werden.

Eckard Bieger SJ, „Ist der Fußball eine Liturgie?”

Und dann fällt ein Tor!

Bild 22 | Cacau, gebürtiger Brasilianer, VfB Stuttgart (2003-2014), Deutsche Nationalmannschaft (2009-2012) | © dpa / picture alliance

Ein Tor löst nicht nur ein besonderes Glücksgefühl bei der erfolgreichen Mannschaft aus, es wird auch rituell begleitet. Torschützen sinken auf die Knie, halten die Hände zum Himmel hin offen und blicken nach oben. Wie manche Katholiken sich nach dem Empfang der Kommunion bekreuzigen, so auch Fußballspieler. Es drückt sich in diesen Gesten aus, dass man das Tor nicht nur dem eigenen Können, sondern auch dem „Himmel“ verdankt. Wenn dann noch Zuschauer eingeblendet werden, die eine beschwörende oder eine Gebetshaltung einnehmen, stimmt sozusagen die Gemeinde in den Ruf nach himmlischem Beistand ein.

Eckard Bieger SJ, ebda.

Auf den Zuschauerrängen beobachten wir derweil unterschiedliche Szenarien: Die Geschäftswelt trifft sich in den Logen und auf den Business-Seats, die Familien im ihnen zugedachten Familienblock (mit Alkohol- und Zigarettenverbot), die Gästefans – aus Sicherheitsgründen – im abgeschirmten Gästeblock und die nur “einfachen” Zuschauer auf den übrigen Sitzplätzen.

Bild 23 | 19. September 2017: Borussia Mönchengladbach – VfB Stuttgart | © Ralf Simon

Auf den Stehplätzen der Ultras hingegen kann es dann schon mal heiß werden: Bis zu 1.200°C entwickelt das rotglimmende Feuer der in den Stadien eigentlich verbotenen Pyrostäbe.

Hat schon mal jemand an Brandschutz bei Hochfestfeiern mit Weihrauch gedacht?

Bild 24 | 20. Dezember 2015: Weihnachtssingen auf dem Aachener Tivoli | © Ralf Simon

Ein interessantes Phänomen sind die Mitte der 2000er bekannt gewordenen Weihnachtssingen in einigen Fußballstadien. Angefangen hat es bei Union Berlin:

Im Jahr 2003 fing alles an. 89 Verrückte trafen sich ‘halblegal’ mit Glühwein und Gebäck auf Höhe der Mittellinie im Stadion An der Alten Försterei zum Weihnachtsliedersingen. Von Jahr zu Jahr wuchs die Schar der Sänger. Weihnachten 2010 erfüllten die Stimmen von über 10.000 Menschen das eiserne Wohnzimmer.

Das Weihnachtssingen ist inzwischen ein generations- und vereinsübergreifendes Ereignis. Pfarrer Müller trägt die Weihnachtsgeschichte vor, der Chor des Emmy-Noether-Gymnasiums gibt Tonart und Takt vor und eine kleine Bläsergruppe sorgt für festlich-fröhliche Klänge. Liederbuch und Kerze gibt es gratis – eine kleine Spende für die Nachwuchsarbeit des Vereins ist jedoch immer willkommen.

Quelle: www.fc-union-berlin.de/fans/fankalender/weihnachtssingen/
Bild 25 | 20. Dezember 2015: Weihnachtssingen auf dem Aachener Tivoli | © Ralf Simon

Inzwischen gibt es das “Weihnachtssingen im Stadion” z.B. seit 2013 auch in Aachen mit zuletzt ca. 10.000 Mitwirkenden. Hier wird es vom Arbeitskreis Christlicher Kirchen (ACK), mit dem Vorsitzenden Pfr. Andreas Mauritz an der Spitze, durchgeführt.

» weihnachtssingen-ac.de

In Köln waren es 2016 unter dem Titel “Loss mer Weihnachtsleeder singe” sogar bis zu 40.000 Menschen.

» koeln.de/koeln/was_ist_los/topevents/loss-mer-weihnachtsleeder-singe_970277.html

© Ralf Simon

Fotonachweis

Videonachweis

  • Video 1: Christian Guhlke (zdf@bauhaus – BAP Unplugged)
  • Video 2: Ralf Simon (BAP: Intro (Domglocken) / Songs sinn Dräume)
  • Video 3: snory66 (2016-06-01-Bap-Köln-13-Jraaduss)
  • Video 4: Circus HalliGalli (Rock am Ring: Crowdsurfing XXL & “Angels”)
  • Video 5: Ralf Simon (Die Toten Hosen – You’ll never walk alone)
  • Video 6: Ralf Simon (Tivoli Aachen: You’ll never walk alone)
  • Video 7: Ralf Simon (Tivoli Aachen: “Alemannia Aachen wird nie untergeh’n”)

Literaturnachweis

Literaturempfehlungen

Den Vortrag hatte am 15. November 2017 auf der Plattform atavist.com publiziert. Da dieser zum 31. März 2021 seinen Service eingestellt hat, habe ich den Beitrag (nur ganz leicht sprachlich überarbeitet) am 29. März 2021 unter dem Originaldatum auf meinen Blog geholt.

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